Wir hören und sehen es täglich: Millionen von Afrikanern hungern am Horn von Afrika (in Somalia, Kenia, Äthiopien, Sudan) und viele Tausende sind bereits an den Folgen der schlimmsten Dürre seit 60 Jahren gestorben. Seit zwei Wochen berichten die Medien weltweit von dieser Katastrophe – oftmals einfühlsam, mit starken aufrüttelnden Worten, berechtigte Schuldzuweisungen adressierend, in stiller Wut und eingestandener Ohnmacht. Die humane Katastrophe – obwohl nicht überraschend vom Himmel gefallen – übersteigt in ihrer aufklärungsbedürftigen Kolossalität unser Fassungsvermögen. Sie ist primär von Menschen in einer global vernetzten Welt verursacht, aber gestorben wird lokal.

Gott sei Dank gibt es nationale und internationale Organisationen wie das Flüchtlingswerk der UNO, Ärzte ohne Grenzen, die Welthungerhilfe, Oxfam sowie die vielen humanitären Organisationen aus dem Orient und Okzident, die hier dringend benötigte Nothilfe leisten. Sie brauchen Geld, viel Geld, denn bis zur nächsten ergiebigen Ernte kann es noch Jahre dauern. Auch Deutschland beteiligt sich am Spendenaufkommen, wenn auch eher zögerlich und schwerhändig. Der Konsens wächst, dass jetzt Menschen, für die das Überleben in karger Umwelt zur banalen Selbstverständlichkeit gehört, geholfen werden muss, um eine existentielle Grenzsituation extremer Art zu überstehen. Wer jemals erlebt hat, mit welcher Entschlossenheit und Würde Frauen in extremer Not ihre Bündel packen, ihr Jüngstes schultern und sich dann auf den unendlich langen Weg zu einem fernen internationalen Hilfslager machen, der weiß, wie schwer es ihnen fällt, ihre Heimat zu verlassen und sich der unsicheren Fürsorge und dem Mitleid Anderer auszuliefern. Migration ist ein Akt der ultima ratio starker Charaktere.

Man kommt nicht umhin, nach den Ursachen und den Verursachern dieser Katastrophe zu fragen. Das verlangen unser Hirn, unser Herz, unsere Anteilnahme, und wer zu geben bereit ist, möchte wissen wofür. Müssen Menschen zu Tausenden verhungern in einer Welt, die erstmals große Erfolge in der Armutsbekämpfung aufzuweisen hat? Viele Millionen von Menschen in China, Indien, Vietnam, in Chile und Brasilien sowie in den asiatischen Tigerstaaten konnten in den vergangenen Jahrzehnten schon aus dem Teufelskreis der Armut herauswachsen – dank neuer Chancen der Globalisierung. Warum können dann in Teilen Afrikas immer wieder so dramatische Hungerkatastrophen entstehen, offenbar politisch ungebremst? Hat der Schweizer Soziologe Jean Ziegler recht, wenn er anklagt: ‚Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet‘, was heißt, dass der Tod hätte verhindert werden können?

Was die Ursachen der Katastrophe angeht, so handelt es sich um eine wechselseitige Verstärkung sehr unterschiedlicher Faktoren. Zweifelsohne hat die im industrialisierten Norden verursachte Klimaveränderung negative Auswirkungen auf Zeitpunkt und Menge der Niederschläge und Trockenheit in Afrika, die es den Bauern und Hirten erschweren, Getreide zu ernten und Vieh zu ernähren. Ebenso ist nicht zu bestreiten, dass neben diesen globalen Wirkfaktoren auch nationale politische Umstände krisenverstärkend wirken. Der Jahrzehnte andauernde Bürgerkrieg in Somalia, angefacht durch islamistische Krieger und unfähige Politiker, hat jeglichen Gedanken an entwicklungspolitisch sinnvolle Krisenprävention vereitelt. Nicht einmal der normale Landwirtschaftsbetrieb konnte aufrecht erhalten – der Religions- und Machtwahn der Milizen verhinderte das.

Versagt haben drittens auch die prosperierenden Staaten mit ihren bornierten Eigeninteressen, die verhindert haben (darunter China und andere Länder der Dritten Welt), rechtzeitig globale Klimaabkommen zu schließen, die es den Entwicklungsländern ermöglicht hätten, sich rechtzeitig auf den Klimawandel mittels kostenintensiver Forschungsprogramme vorzubereiten. Und viertens kann auch der leider berechtigte Standardvorwurf an die Regierungen der Europäischen Union nicht unberücksicht bleiben, dass die ruinöse Subventions- und Exportförderungspolitik der Europäer (und der USA) im Agrarbereich vielen Bauern, Hirten und Fischern in Afrika die Existenz gekostet hat. Erst in jüngster Zeit sind hier Brüsseler Initiativen erkennbar, dass dieser skandalöse Egoismus der Reichen auf Kosten der Schwächeren, die künstlich wettbewerbsschwach gehalten werden, schrittweise abgebaut wird.

Ist die Lage der Klima- und Kriegsflüchtlinge in den überquellenden Lagern von Dadaab also hoffnungslos? Sind wir zur politischen Ohnmacht jenseits der internationalen Solidaraktionen verdammt? Keineswegs! Den international tätigen Hilfsorganisationen ist heute längst bewusst, dass es ergänzend zur augenblicklichen Katastrophenhilfe für vom Hungertod bedrohte Menschen umfassende Strukturreformen geben müsste, die das Überleben der Klima-, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge nachhaltig durch produktive Eigenarbeit sicherstellen könnten. Diese Erkenntnis hat zwei politische Adressaten: die „global players“ zum einen, die nationalen Regierungen in den Krisenregionen zum anderen. Wenn die These stimmt, dass Globalisierung im Sinne von Überwindung einengender Grenzen den Reichtum in der Welt enorm befördert hat, dann ist es nur recht und billig, von den Nutznießern dieses globalen Netzwerkes zu verlangen, wenigstens alles zu unterlassen (Zähmung des „Raubtierkapitalismus“ im Agrar- und Handelsbereich), was die Überlebens- und Entwicklungschancen in den Randzonen dieser Weltgesellschaft wie dem Horn von Afrika schwächt. Dazu gehört auch das unselige ‚land-grabbing‘ – eine neue Plage für Afrikas Bauern: devisenhungrige Regierungen verkaufen oder verpachten Agrarland an Ausländer (darunter Araber, Chinesen, westliche Agro-Multis). Gleichzeitig ist darauf hinzuwirken, dass die gegenwärtige Krise der Ernährung in Ostafrika auch als Chance genutzt werden sollte, von den betroffenen Regierungen zu fordern, dass sie die Eigentumsrechte ihrer Bauern an Grund und Boden stärken. Das Land muss dem gehören, der es bewirtschaftet, sonst fehlen Anreize zur Verbesserung der Bodenqualität. Nur in der staatlicherseits zu fördernden Produktivitätssteigerung der einheimischen Landwirtschaft durch die Vielzahl kreativer Familienbetriebe – bei gleichzeitiger Rückführung des global wirksamen Handelsprotektionismus der Industrieländer – liegt die Möglichkeit, dass Afrika in Zukunft weniger anfällig wird für existentiell bedrohliche Krisen. Risikoanfälligen Gesellschaften mit unserem wissenschaftlichen Know-how dabei zu helfen, geeignete Anpassungsstrategien an Klimaveränderungen zu entwickeln, könnte für internationale Entwicklungszusammenarbeit zur neuen Herausforderung werden, die der solidarischen Unterstützung wert wäre.

Der Autor ist als „Professor of African and Development Studies“ an der Jacobs University Bremen tätig und ist Mitglied des Vergabegremiums von Bündnis Entwicklung Hilft (BEH).